en fr de 

Text von Samuel Kortey Baah & Lynhan Balatbat-Helbock

“The Uninterrupted Song for the City” – ein Projekt von Sinzo Aanza & guerillaclassics

 

„Wo bleiben die Schösslinge, die austreiben und die alte Staude ersetzen?“
Chinua Achebe, Alles zerfällt, 1958

 

"The Uninterrupted Song for the City" von Sinzo Aanza beschäftigt sich mit der Entwicklung neuer Methoden zur Wissensproduktion und möglicher Formen, Geschichte zu erzählen, wodurch das Projekt eine Reihe von Fragen in Bezug auf die Ethik von Museen und deren Umgang mit Relikten, die durch koloniale Expeditionen erworben wurden, aufwirft. Wie kann es sein, dass Museen es sich als Verdienst anrechnen lassen, das Erbe derer zu archivieren, die durch ihre Vorfahren in Gefahr gebracht wurden? Warum ist Widerstand geboten gegen die Aufnahme von Materialien, die eng verbunden sind mit verzweifelten und gefangenen Seelen, und die dem Staub überlassen werden, den sie einatmen, der ihren Wert erstickt und ihre Kultur entwertet? Wiederholen sich koloniales Streben und Herrschen in den Idealen der Museen? So lauten die Fragen, die den Anstoss zu dieser Intervention gaben. Was den Künstler und guerillaclassics bei der Umsetzung dieser Erfahrung antreibt, ist die Rekonstruktion anhaltender Träume, unverwirklichter Möglichkeiten sowie ein aufmerksameres Bewusstseins innerhalb der Musikindustrie und darüber hinaus.

Das Projekt versetzte Mitarbeitende wie Zuhörende gleichzeitig in eine Stimmung des Lernens, Heilens und Schaffens, indem es die kolonialen Beziehungen, die in Museumssammlungen verankert sind, hinter sich liess und mit der Aussenwelt ins Gespräch kam. Die Klangcollage entstand durch unkonventionelles Denken und Leben. Dabei diente die Klanglandschaft von Kinshasa als Musikinstrument: Geräusche von Strassenhändler*innen, Off-Beat-Melodien, die aus Tischlereien, Kirchen, Partys erklingen, sowie weitere akustische Kompositionen aus der Stadt dienten diesem Projekt als Referenz. In Zusammenarbeit mit guerillaclassics und Vincent Glanzmann, Huguette Tolinga, Eden Sekulovic, Dimitri Petrov, Hiromi Gut, Philippe Kocher, Andreas Brüll, Rokia Bamba und Valentine Michaud extrahiert Sinzo Aanza Melodien und Partituren, die in der (vor)kolonialen Zeit im Kongobecken und am Golf von Guinea produziert und archiviert wurden. Bei den sorgfältig ausgewählten Klängen aus der Sammlung des Königlichen Museum für Zentralafrika in Brüssel, Belgien, handelt es sich um Praktiken, die sowohl zu Studienzwecken aufgenommen und gesammelt wurden als auch in der Absicht, Dokumentationen des vorkolonialen Lebens und der vorkolonialen Kultur aufzubewahren.

Das Projekt ist nicht nur eine Reise in ein äusseres, sondern auch in ein inneres Archiv. Viele der eingebetteten Klänge, die in der von einer künstlichen Intelligenz kompilierten digitalen Struktur gespeichert sind und eine Vielzahl von Genres umfassen, sind auch in den Archiven unserer Körper präsent.

Diasporische Klanglandschaften, deren Gemeinsamkeiten vielleicht nicht auf Anhieb erkennbar sind, verbinden kontaminierte und aktivierte Musik über Kontinente und Regionen, über Mauern und Generationen hinweg. „The Uninterrupted Song for the City“ ist ein Projekt, das die eindeutigen Spuren schwarzer Klänge hörbar und damit die Existenz schwarzer Körper erfahrbar macht. Es ist eine Fortsetzung von "The Improbable Memorial", eines spekulativen Mahnmals des Künstlers Sinzo Aanza, das von den Archiven inspiriert wurde, die Musik, Rituale und Praktiken aus verschiedenen Regionen Zentral- und Westafrikas enthalten.

Viele Ton- und Videomaterialien, die hinter den Mauern des Afrikamuseums in Tervuren aufbewahrt werden, sind Spuren von Praktiken und Ritualen, die zu verschwinden drohen. Diese Archive bilden den Ausgangspunkt für das Projekt.

Das Klangliche ist zentral in diesem prozessorientierten Projekt. Klangfragmente einer kollektiven Vergangenheit sollen Zeugnis von der Entmystifizierung autophager Musikgenres ablegen. Immerwährende Inspiration vermochte vor langer Zeit, die Grenzen zu verwischen, die einige wieder und wieder neu zu ziehen trachten. Die klanglichen Begegnungen mit den drei Musiker*innen sind eine Einladung, dem Gespräch zwischen Archivmaterial aus der Maschine und in dessen eigenen Klang zu lauschen.

Diese einzelnen Aktivierungen können im Rahmen eines einwöchigen Programms vor dem Museum Rietberg besucht werden. Dabei sind die Besucher*innen dazu eingeladen, sich in die Klänge zu vertiefen, die von der Maschine, die das Archiv enthält, abgespielt werden. Das Projekt sensibilisiert sowohl die Teilnehmenden als auch die Zuhörenden für die Allgegenwart kolonisierter Körper, die nicht gefangen gehalten wurden, sondern Klänge in Form von Jazz, Techno, House, Klassik und einer Menge Musik, die noch kommen wird, aktivierten.

Übersetzung: Anna Jäger